Die Vorweihnachtszeit klingt in der Theorie so gemütlich. Lichterketten. Kakao. Plätzchenduft. In der Realität fühlt sie sich für viele Familien eher an wie ein Dauerlauf mit Glöckchen. Für Kinder ist diese Zeit emotional extrem dicht – und für uns Eltern oft gleich mit.
Vielleicht kennst du das: Dein Kind reagiert plötzlich viel schneller gereizt, weint scheinbar „grundlos“, wird wütend, laut oder völlig überdreht. Einschlafen dauert ewig. Übergänge eskalieren. Und irgendwo zwischen Brotdose, Adventskalender und To-do-Liste denkst du erschöpft: „Warum ist das gerade alles so anstrengend?“
Die kurze, ehrliche Antwort: Weil Kinder in der Vorweihnachtszeit emotional überflutet sind.
Und weil sie noch etwas ganz Entscheidendes brauchen: Bindung statt Begrenzung.
Warum Kinder gerade jetzt emotional „hochfahren“
Kinder erleben die Welt ungefiltert. Alles kommt direkt im Nervensystem an. Die Vorweihnachtszeit bringt:
- erhöhte Erwartungen („Bald ist Weihnachten!“)
- viele Termine und Abweichungen vom Alltag
- Reizüberflutung durch Lichter, Geräusche, Gerüche
- emotionale Spannung (Vorfreude, Unsicherheit, Druck)
Ihr Nervensystem ist damit schlicht überfordert. Und was machen Kinder, wenn sie überfordert sind? Sie zeigen es. Laut. Unkoordiniert. Emotional.
„Kinder sind nicht schwierig, sie haben es schwierig.“
Das ist kein Fehlverhalten. Kein Erziehungsproblem. Kein Zeichen von mangelnder Konsequenz. Es ist ein Stresssignal.
Bindungsorientiert bedeutet hier: Wir versuchen nicht, dieses Signal zu unterdrücken, sondern es zu verstehen.
Bindung vor Verhalten – ein Perspektivwechsel
Viele von uns haben gelernt, auf Verhalten zu reagieren: „Hör auf.“ – „Reiß dich zusammen.“ – „Jetzt ist aber genug.“
Bindungsorientiert schauen wir tiefer. Wir fragen uns: Was braucht mein Kind gerade, um sich wieder sicher zu fühlen?
Denn Regulation passiert nicht über Worte oder Regeln – sie passiert über Beziehung.
Ein Kind, das emotional hochdreht, braucht:
- einen ruhigen Erwachsenen
- emotionale Sicherheit
- Verbindung statt Kontrolle
Das heißt nicht, dass alles erlaubt ist. Aber es heißt, dass Verbindung immer vor Korrektur kommt.
Gefühle benennen: Gesehen werden reguliert
Einer der kraftvollsten bindungsorientierten Schritte ist es, Gefühle zu benennen – ohne sie wegzumachen.
Sätze wie:
- „Das ist gerade ganz schön viel für dich, oder?“
- „Ich sehe, wie aufgeregt dein Körper ist.“
- „Du bist gerade total überfordert.“
Das wirkt, weil dein Kind merkt: Ich werde verstanden.
Und verstanden zu werden beruhigt das Nervensystem.
Wichtig: Du musst keine Lösung anbieten. Kein „Aber“. Kein „gleich ist es vorbei“. Bleib einfach da.
„Wenn Gefühle Raum bekommen, müssen sie nicht mehr so laut sein.“
Struktur ist Bindung – gerade in turbulenten Zeiten
Bindungsorientiert heißt nicht chaotisch. Im Gegenteil: Kinder brauchen Struktur, um sich sicher zu fühlen.
Gerade jetzt sind Rituale Gold wert:
- gleiche Abendabläufe
- vertraute Einschlafrituale
- feste Essenszeiten
- kleine wiederkehrende Momente von Nähe
Struktur gibt Halt, wenn innen alles durcheinander ist. Sie signalisiert: Die Welt ist verlässlich, auch wenn sie sich gerade aufregend anfühlt.
Viele Eltern denken: „Ich muss jetzt flexibler sein, es ist ja Advent.“
Bindungsorientiert dürfen wir sagen: Je mehr außen los ist, desto stabiler darf es innen sein.
Co-Regulation: Du bist der Leuchtturm
Kinder können sich nicht allein beruhigen. Das ist kein Defizit, das ist Entwicklung. Ihr Gehirn ist darauf ausgelegt, sich an einem erwachsenen Nervensystem zu orientieren.
Co-Regulation bedeutet:
- Du bleibst ruhig (oder ruhiger als dein Kind)
- Du sprichst langsam und leise
- Du bist körperlich präsent
- Du atmest bewusst
Manchmal reicht es, einfach da zu sitzen. Eine Hand auf dem Rücken. Kein Reden. Keine Erklärung.
„Dein ruhiger Körper sagt mehr als jedes pädagogische Konzept.“
Und ja – das ist schwer, wenn du selbst am Limit bist. Wenn dein Kopf rattert. Wenn du eigentlich selbst reguliert werden müsstest.
Dann gilt: Du musst nicht perfekt sein. Du musst nur da sein.
Wenn du selbst erschöpft bist – ein bindungsorientierter Realitätscheck
Bindungsorientierung heißt nicht Selbstaufgabe. Sie heißt nicht, immer geduldig zu sein oder alles auszuhalten.
Wenn du merkst, dass du innerlich kochst, darfst du:
- kurz Abstand nehmen
- tief durchatmen
- Hilfe holen
- ehrlich sagen: „Ich bin gerade selbst überfordert.“
Auch das ist Bindung. Authentisch. Echt. Menschlich.
Viele Mütter funktionieren gerade in dieser Zeit nur noch. Und fühlen sich schuldig, wenn sie nicht gelassen bleiben.
Hier eine wichtige Erinnerung:
Ein erschöpfter Mensch kann kein dauerhaft regulierender Anker sein.
Bindungsorientiert ist auch, deine Grenzen ernst zu nehmen.
Weniger Kämpfe, mehr Verbindung
Wenn Kinder emotional hochdrehen, kämpfen wir oft gegen das Symptom. Bindungsorientiert gehen wir eine Ebene tiefer.
Wir fragen nicht:
„Wie kriege ich das Verhalten weg?“
Sondern:
„Was braucht mein Kind, um sich wieder sicher zu fühlen?“
Manchmal ist die Antwort:
- Nähe
- Struktur
- Verständnis
- weniger Tempo
- weniger Erwartungen
Und manchmal einfach nur Zeit.
Ein letzter Gedanke für dich
Wenn dein Kind in der Vorweihnachtszeit emotional explodiert, heißt das nicht, dass du versagt hast. Es heißt, dass dein Kind fühlt. Und dass du gerade gefragt bist, nicht als perfekter Mensch, sondern als präsente Mutter.
Weniger Druck.
Mehr Mitgefühl.
Mehr Verbindung.
Und vielleicht dieser eine Satz, der alles verändert:
„Es ist gerade viel – und wir gehen da gemeinsam durch.“
Du musst das nicht allein tragen. Und dein Kind auch nicht.

